Die Balustrade der Familie

Mein Balkon ist kein schöner. Er hat eine Grundlümmelfläche von circa vier Quadratmetern und ist rechteckig. Durch eine kleine weiße Altbauglastür gelangt man auf die ersten paar Quadratmeter. Auf die Restlichen verteilt ist eine kleine Fensterbank zum sitzen und alles ist umzäunt von einer von außen durchsichtigen Glasfassade. Im Rücken hat man die Hausfassade, in der sich die Abgase der vorbeifahrenden Autos in den Kerben und Ritzen sammelt. Man schaut auf die belebte Straße, die vorbeifahrenden verschiedenen Vehikels und alle Berliner, die die Kreuzung überqueren.

Anfangs war der Wunsch nach einer schönen abendlichen Entspannungsatmosphäre und einer morgendlichen „Wir starten in den Tag mit etwas Frühsonne“ – Bemühungen, vorhanden, aber nachdem diverse Versuche, diesen Teil der schönen Wohnung angenehm zu gestalten fehlschlugen, benutzen wir den Balkon überhaupt nicht mehr. An Silvester vergangenen Jahres haben wir noch alle auf ihm mit unseren Sektbechern angestoßen, hier und da mal auf der Fensterbank gesessen, aber diese pipi-kleinen Rituale erledigten sich sehr schnell wieder, weil der Balkon einfach nicht einladen war.

Der Nutzen und die Freude über ihn waren hinfort.

Nun war meine Familie zu Besuch. Für den einen oder anderen nichts besonderes, für mich aber etwas spektakuläres.

Kurzes Familien-Feedback:

Mutter, Vater, Schwester (10,5 Jahre jünger) vor knapp zehn Jahren (ich war damals 15) in die Schweiz ausgewandert und seitdem sieht man sich maximal zwei mal im Jahr. Daher ist es sehr schön, wenn sie alle zu Besuch kommen.

So eben vor fünf Tagen geschehen und das erste Mal überhaupt ausschließlich bei mir in den eigen vier Wänden. Mein Berliner Leben gepaart mit vermisster Familienidylle.

Immer wenn die Familie zu Besuch kommt, gerät das eigene Leben aus den gewohnten Bahnen. Der selbstständige junge Mann wird wieder ein hilfsbedürftiger (teils fauler) Junge, die Mom putzt mit viel Liebe zum Detail die Wohnung, obwohl dies nicht notwendig ist („…ich mach es eben einfach gerne!“) und das gemeinschaftliche Frühstück wird zum ungewohnten Alltag. All das sind Dinge, mit denen man in den ersten Tagen erst mal wieder umgehen lernen muss. Bei uns war es aber diesmal ganz anders. Frühstück um 10:00 Uhr war schon angesagt, aber kein Zwang. Den Tisch hat der Sohn gedeckt und liebevoll die Eltern geweckt. Danach die kleinere Schwester vom Nintendo DS aus dem Bett gekrault und mit glücklich lächelndem Gesicht ins Wohnzimmer an den Tisch gebracht. Daddy saß schon und genoss das lockere Leben. Die dominierende Hand war diesmal der Sohn. Kein Fauler, sondern einer, der der Familie all die gewöhnlichen Situationen bieten möchte, die für „herkömmliche“ Familie normal sind.

Auch wenn er diesmal nicht komplett aus seinem Leben fiel, ergaben sich aber Augenblicke, in denen durch die Anwesenheit ungewohnter Personen (damit meine ich Personen, die nicht täglich, oder wöchentlich bei einem ein und aus gehen) neue Rituale. So nun auch mit dem angefeindeten Balkon.

Wie schon erwähnt, verschmähten alle Mitbewohner diesen Tag für Tag. Doch die vergangenen Stunden waren anderes. Begonnen hat es damit, dass die Familie eine derartig lebendige, laute und freie Atmosphäre nicht gewohnt war. Reinigungsfahrzeuge mit blickenden Lichtern am Abend. Polizei-, Krankenwagen- und Rettungsfahrzeugssirenen 24 Stunden, quietschende Reifen, brüllende Touristen, redende Einheimische. Also rannte man mal raus, stellte sich an die Brüstung und schaute. Etwas, was wir total „verlernt“ hatten. Erst die Mom auf der Fensterbank, dann die Schwester auf dem einen dreckigen IKEA-Stuhl, dann noch mehr Stühle besorgt, denn der Dad wollte auch mit schauen. So ergab es sich, dass die gesamte Familie mehrmals am Tag Zeit auf dem Balkon verbrachten. Zum Schauen, zum Wundern, zum Reden, zum Genießen, zum Erinnern und vor allem um beieinander zu sein. Dies war eine Situation, die komplett und vollkommen neu für mich war.

Es war sehr schön.

offener Zugang zu fundamentale Sitzflächen am Fenster zum Balkon

offener Zugang zu fundamentale Sitzflächen am Fenster zum Balkon

Grenzenlosigkeit trotz Mauern

Grenzenlosigkeit trotz Mauern

Nun nach fünf tollen Tagen, Tagen der Gemeinsamkeiten, der Faulenzerei, des Unternehmens, des Redens und des „in das Leben des Anderen (egal welches Mitglied) genauer eintauchen und sich wieder intensiv spüren, ist die Familie vom Hauptbahnhof abgereist. Viel zu früh, viel zu schnell verging die Zeit als Einheit und viel zu schnell, verfällt man in gewohnte Rituale. Aussteigen am Hackeschen, Abstecher zu Starbi, rauchen auf dem Weg (obwohl, aus Rücksicht auf die Familie und die kleine Schwester – man ist ja eigentlich ein Vorbild – radikal reduziert), Milch kaufen im Spät-Shop und rein in die leere Wohnung. Eigentlich war ich es dann gewohnt, die Zimmer wieder zum Ursprungsaussehen herzurichten, diesmal aber nicht.

Ich ging durch jedes Zimmer, in denen so viel liebes Leben die vergangenen 120 Stunden war. Fand das silbern glitzernde Armband meiner Schwester auf dem Sofa – „Mist hat sie vergessen“, stellte die Gläser, in denen noch der letzte Schluck Ice-Tea war, in die Küche, ging in das Gästezimmer um zu schauen, ob noch Überbleibsel zu finden waren, schlürfte dann in das zur Verfügung gestellte Mitbewohnerzimmer und entdeckte die drei Cocktail-Fuzzel-Spieße die immer in der Ananas steckten – „scheinbar hat meine Schwester sie zur Erinnerung an ihren ersten Cocktailabend hier hinterlassen“ – schön in Reihe und Glied auf der Hantelbank positioniert und lief danach am Balkon vorbei. Das Gefühl war nicht mehr wie sonst. Ich dachte an die Morgende, die Mittage und die Abende auf ihm. Irgendwie kam Traurigkeit auf. Traurigkeit, die sonst so nicht zu spüren war. Sie war zwar da, aber das Denken zu rational – „Jeder geht eben irgendwann seine eigenen Wege“, Familie kann aber nicht immer so schnell los lassen, schon gar nicht, wenn man sich seit fast zehn Jahren nur 2-3 Mal in zwölf Monaten sieht.

Ich ging raus. Setzte mich auf die beiden, inzwischen von Mutti geputzten Balkonstühle, steckte mir eine selbst gedrehte Zigarette an und dachte an das, was die anderen wohl hier auf dem Balkon gedacht haben. Es kam wieder etwas zurück. Ein Gefühl, eine Situation, eine Emotion, die eben einfach weg war. Natürlich ist es nur ein Balkon, aber was sich auf ihm abspielt, ist eine ganz eigene Geschichte.

Es war eine sehr Schöne.

Nun sitze ich genau hier. Schaue auf den Dreck in den Ritzen, die Bastmatten, die schon seit Jahren in den Müll sollten. Höre den Touristen vor dem Döner-Laden beiläufig zu und finde eine Ruhe, die ich schon lange nicht mehr empfunden habe. Etwas, was eben nur die Familie einem beibringen und auf den Weg mitgeben kann, auch wenn wir erwachsen geworden sind, zu weit weg wohnen oder manchmal im Dschungel der Großstadt und des eigenen eingefahrenen, Ritual oder kein Ritual-Leben versacken, trotzdem einen Platz finden kann.

Ich werde heute noch eine ganze Weile hier sitzen bleiben – Danke hier drei.



ttyialw GosseGuy

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